Die Welt des kleinen Mädchens Martha endet bei Wachtürmen und Stacheldrahtzäunen. In dieser Umgebung, wo nichts wächst und nichts gedeiht, erfährt Martha die lebenserhaltende Kraft menschlicher Gesten. Nach der Freilassung wandert die Familie nach Kanada aus. Aber das Leben in Freiheit ist ganz anders. Gut und Böse sind nicht mehr klar erkennbar. Martha stürzt in eine schwere Krise., Orte und Kriege sind austauschbar, das Leiden, der Albtraum und das Erinnern sind stets ganz intim und individuell. Der Ausgangsort dieses Geschehens heißt Potulitz, ein polnisches Nachkriegslager für deutsche Flüchtlinge. Vier Jahre werden hier Marthas Kindheit prägen und ihr Leben bestimmen. Das Erstaunliche an diesem Buch ist die Zurückhaltung, mit der es geschrieben wurde, die beeindruckende Fähigkeit einer 1939 Geborenen, sich noch einmal in die Zeit ihrer Kindheit im Lager zurückzuversetzen und diese Eindrücke so lebendig und klar, pur und unverfälscht wiederzugeben. Distanziert und fast wie selbstverständlich die Erzählhaltung, das beeindruckt und berührt. "Wir besaßen keine Maßstäbe, um Grausamkeiten mit gewöhnlichen Lebensumständen zu vergleichen", schreibt Martha Kent, die als Neuropsychologin auf die Behandlung von Patienten mit Kriegs- und Gefangenschaftstraumata spezialisiert ist. 15 Jahre hat sie an dem Buch gearbeitet, ein Stück Seele ist mit eingeflossen. "Mutters Lieblingsworte waren immer 'zusammenhalten, durchhalten, aushalten, mithalten'." Ab und zu sieht Martha ihre Mutter, selten ihren Vater. Wanzensuppe, Läuse, Stroh, Appelle, geschlagene Menschen, verschwundene Menschen, dies alles wird detailliert geschildert, Szenen dieses "barbarischen Ortes", der für viele andere steht, werden erneut lebendig. "Wenn die Leute verschwanden, dann waren sie tot. Wer tot war, kam nicht wieder." 1949 zieht die Familie nach der Freilassung in den Westen, schließlich nach Kanada. Dort wird Martha von ihrer Vergangenheit eingeholt: Depression, völliger Zusammenbruch. "Meine Anpassung, die sich an der Gefangenschaft orientierte, bedeutete in der Freiheit ein gewaltiges Handikap." Respekt vor so großer Ehrlichkeit und persönlicher Offenlegung. Nach vielen Jahren reist Martha Kent noch einmal nach Potulitz. "Mein Besuch in Polen erleichterte es mir, mein Buch zu beenden." Der Kreis hat sich geschlossen. Ein bemerkenswertes Buch ist entstanden. --Barbara Wegmann