Um die Situation des modernen Menschen zu beleuchten, schreibt der portugiesische Autor und Nobelpreisträger José Saramago düstre Parabeln. Immer wieder führen diese in den Untergrund des Mythos zurück, in Alle Namen etwa zu Orpheus und Eurydike. Und immer wieder steht die menschliche Verblendung im Zentrum, wie in Die Stadt der Blinden , wo ein ganzes Kollektiv in vollkommene geistige Umnachtung stürzt. Blind ist der moderne Mensch, laut Saramago, blind wie die Bewohner von Platos Höhle. "Wir lebten niemals tiefer in der Höhle als heutzutage", konstatierte er deshalb in einem Interview, und fuhr fort, dass dieses Schattenreich der schlafenden Vernunft heutzutage die Shopping-Mall geworden sei. Saramagos neuer Roman Das Zentrum heißt im Original A Caverna , ein Titel, der den Bezug zu Platos Höhlengleichnis deutlich hervortreten lässt. Die deutsche Übersetzung hingegen stellt den realen Ort der Handlung klarer in den Mittelpunkt: Spielt doch das Buch in eben jenem Einkaufszentrum, das die Menschheit und ihre Nachgeborenen nach Ansicht des kommunistischen Autors zu bloßen Konsumenten degenerieren lasse. An seiner Peripherie, in einem kleinen Dorf, fristen der alte Töpfer Capriano Algor und seine Tochter sowie deren Mann Marçal Gacho ihr kärgliches Dasein. Tagtäglich fahren Algor und Gacho mit ihrem klapprigen Laster zum Supermarkt, um ihre Waren abzuliefern -- bis plötzlich das industrielle Leben sie rechts zu überholen droht. Aber so einfach will die pfiffige Familie es dem Kapitalismus und der alles egalisierenden Globalisierung nicht machen. Und dann tut sich schließlich sogar noch eine zweite, wahre, wundervolle Grotte auf, die ein Bautrupp durch Zufall öffnet -- und die vielleicht die echte platonische Höhle ist. Neben Die Stadt der Blinden und Alle Namen gehört Das Zentrum zu Saramgos so genannter Trilogie der menschlichen Zustände. Nach seinem Erscheinen in Portugal erfuhr der Roman innerhalb kürzester Zeit mehrere Auflagen und ging mit Rekordzahlen über den Ladentisch. Auch hier zu Lande steht zu hoffen, dass das Das Zentrum zu einem Bestseller avanciert. Denn so schwierig es ist, Moral und narrativen Anspruch zwischen zwei Buchdeckeln zu vereinen, so fulminant ist Saramago dies geglückt. --Thomas Köster