[Durs Grünbein: Das erste Jahr - Berliner Aufzeichnungen Hardcover (Gebraucht - Gut) Suhrkamp 2001 1. Auflage], Einige Menschen können die Gegenwart gut leiden. Andere hingegen verabscheuen sie aufrichtig. Wie Durs Grünbein, welch ein Glück! Denn aus dieser Antipathie, aus diesem rückwärtsgewandten Blick heraus präsentiert er uns in Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen intellektuell anregende und sprachlich meisterhafte Gedanken, entfaltet in Arbeitsbuchnotizen vom 1.1.2000 bis zum 31.12.2000. Charakteristisch ist dabei der Blick des Kulturanalytikers, Ästheten, Übersetzers und Poeten. Ohne dass die poetische Qualität leiden würde, betrachtet er die Welt mit den Augen eines Zoologen, seziert seine Wahrnehmung gleichsam mit einem großen, mit einem unbedingten Tierblick. Zusätzlich durch den Katalysator Neugier angetrieben, reflektiert er über seinen Alltag, die Gegenwart und Vergangenheit, immer auf der Suche nach möglichst exakten Worten als Korrelate für alles Erlebte, Empfundene und schwer Erträgliche. Ob in seinem Wohnort Berlin oder auf Reisen nach Wien oder Krakau, ob im alten Pompeji (dem "Urerlebnis") oder in der Neuen Welt: Seine Beschreibungen sind brillant, akribisch in der Wortwahl, poetisch in Metaphern und Assoziationen. Der Gebrauch des riesigen Fundus an Zitaten ist in seiner scheinbar instinktiven Sicherheit beeindruckend. Dabei ist sein Denkanspruch von einer unausweichlichen Strenge geprägt: Ob es um das Auseinanderklaffen von naturwissenschaftlicher Wahrnehmung und künstlerischem Ausdruck geht, um den Niedergang der Geisteswissenschaften, um Poetologisches oder die zusehends in Vergessenheit geratenden alten Dramen. Aber Das erste Jahr ist mehr als Grünbeins poetologische und intellektuelle Standortbestimmung. Es schildert auch sein erstes Jahr als Vater. Passagen von ungeahnter Intimität überraschen, aber stehen wie selbstverständlich neben Abstrakt-Reflexivem. In diesem Kontext spielt die eigene Familie und seine Kindheit in Dresden eine wichtige Rolle, eine Kindheit weitab vom fettleibigen und verwöhnten Westen mit seinem Marken- und Konsumwahn. Vielleicht gibt es ihn also doch noch, den ostdeutschen, den ernsten Ton in der deutschen Gegenwartsliteratur, dessen Verschwinden er selbst beklagt? Ein spezifischer Ton, der sich ebenso auf die radikale Bedingungslosigkeit seiner Fragen an die Gegenwart auswirkt wie auf seine gelegentlich antiquiert wirkende Lexik und Syntax der oft schwer zu widerlegenden Sätze oder auf die Beschäftigung mit den Toten Seneca, Augustinus, Darwin, Baudelaire, Mandelstam oder Cézanne. Ob aber in Ost oder West: Trauriger Fakt ist, dass Grünbein selbst bereits zu einer seltenen, vom Aussterben bedrohten Spezies gehört: der von tiefer Intellektualität durchdrungene, melancholische Poet. Und was kann sich schließlich aus dieser Tatsache anderes ergeben als ein rückwärtsgewandter Blick, der einhergeht mit einer wie auch immer gearteten Abneigung gegen die Gegenwart? --Kristina Nenninger